Der Mond hat uns nicht verlassen

Heute habe ich ein Video gesehen, unter dem ein Mann aus Gaza geschrieben hat: “Wenigstens haben wir noch den Mond“.

Das Bild war schwarz. Zuerst dachte ich, beim Laden des Instagram-Posts sei etwas schief gegangen. Aber bald erkannte ich die Umrisse von zerstörten Gebäuden. Eine Männerstimme sagte: “Es ist finster in Gaza. Wir haben weder Strom noch Treibstoff!”

Er drehte die Kamera zum Himmel und fokussierte auf den hellen Vollmond. Er sagte: “Nur der Mond hat uns nicht verlassen. Er spendet uns Licht!”

Mit diesem Satz endete der Post und der nächste Beitrag, den mir der Algorithmus vorschlug, erschien auf dem Handy-Display.

Ich steckte das Handy in meine Manteltasche und stieg in der Josefstädter Straße aus dem Bus. Die Straße war weihnachtlich beleuchtet und der Wind blies mir eiskalt ins Gesicht. Die Wolken zogen schnell über die Stadt und erzeugten zusammen mit dem Vollmond ein Schattenspiel.

Ich bekam Gänsehaut. Es war derselbe Vollmond, der in dem Video über Gaza schien.

Dieser Gedanke weckte Erinnerungen in mir. Die düstere und traurige Stimmung des Videos kenne ich nur zu gut und auch die Hoffnung, die der Mond ausstrahlt, kann ich fühlen.

Ich hörte die Stimme meiner Oma, die bei jedem Abschied sagte: “Ich werde wieder zum Mond schauen und wenn ihr auch zum Mond schaut, dann sind wir verbunden. Ich sende euch meine Grüße und Gedanken mit ihm. Wenn wir nicht telefonieren oder Briefe schreiben können, dann kommunizieren wir über den Mond”.

Wenn sie das sagte, wurde mir bewusst, dass wir wieder ins Ungewisse reisen würden.

Ich freute mich immer auf die Rückkehr nach Bagdad. Dort war unser Haus, meine Schule, meine Freundinnen und ein großer Teil meiner Familie. Es war das Zuhause und das Leben, das ich kannte. Aber ich wusste auch, dass wir ins Unvorhersehbare zurückkehren würde. Ob wir im nächsten Sommer wieder gehen können, ob ein Krieg zu Ende geht oder ein neuer beginnt, ob es genug Essen, Strom, Medikamente oder überhaupt Geld zum Überleben geben wird. All das stand in den Sternen.

Zurück in Bagdad tauchten wir in das vertraute Chaos ein. Wir lebten mit der Herausforderung wie alle anderen auch. Wir hatten Spaß und lachten, weinten, hatten Wut und trauerten. Machten Witze über den Tod, den Krieg und zerbrachen uns manchmal den Kopf über die aussichtslose Lage. Es war einfach der normale Alltag.

In guten wie in schlechten Zeiten. Wenn die Straßen hell erleuchtet waren oder in den dunklen, stromlosen Kriegsnächten, gab mir der Blick auf den Mond Hoffnung und Geborgenheit. Er sieht uns und er sieht die Oma. Wir sind fern und doch nah. Weit weg in Oberösterreich ist jemand, der für uns betet, damit wir die schweren Zeiten überstehen und die guten Zeiten genießen können.

Wenn ich zum Mond schaute, wusste ich, dass wir den nächsten Luftangriff überleben werden, dass wir in den Ferien wieder zu Oma reisen können, und wenn sie mich dann fest umarmte, war wieder Frieden in meiner Seele.